(Foto: Tarun Biswas)
Seit Jahrzehnten rätseln Soziologen und Psychologen über die Ursachen, die die Massenbegeisterung beim Fußball auslösen: Ist es das Bedürfnis, in der Gruppe gemeinsam zu leiden und zu jubeln? Bietet Fußball in Ermangelung eines richtigen Krieges einen Ersatz, sodass sich vorwiegend Männer gegenseitig mit gesellschaftlicher Erlaubnis auf die Mütze hauen dürfen? Brauchen wir den Fußball, weil wir in unserer Wohlstandsverwahrlosung sonst keine Anreize mehr haben? Ist Fußball nur eine schöne Ausrede, um 90 Minuten lang ungestraft ungesunde Sachen in sich hineinzustopfen?
Meine Theorie: Fußball ist Religionsersatz und neurologische Besonderheit zugleich. Den Begriff „Gottesmodul“ hat der US-amerikanische Neuropsychologe V. S. Ramachandran „ … für ein bestimmtes Hirnareal im Bereich der Schläfenlappen geprägt. Dieses Hirnareal zeigt bei Menschen in tiefer religiöser Versenkung eine erhöhte Hirnaktivität ( … ) an. Diese Gehirnaktivität kann zum Beispiel mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET) in reproduzierbarer Weise sichtbar gemacht werden. Nach den bisherigen Erkenntnissen macht es dabei keinen Unterschied, ob es sich zum Beispiel um meditierende buddhistische Mönche oder etwa um ins Gebet versunkene katholische Nonnen handelt …“ oder eben um Deutsche, deren Fußballnationalmannschaft im Halbfinale einen der Favoriten mit 7:1 geschlagen hat. Die Theorie ist übrigens umstritten, aber ich finde den Ansatz mehr als überzeugend.
(http://de.wikipedia.org/wiki/Gottesmodul und http://community.zeit.de/user/albert-wittine-mancunian/beitrag/2007/10/27/das-quot-gottes-modul-quot)
Damit wäre wir auch schon bei der lustvollen und sich ins Unerträgliche steigernden Adjektivitis, in die sich Moderatoren, Reporter und Fans gleichermaßen stürzten: erregend, unfassbar, entsetzlich, unglaublich, großartig, demütigend … Adjektive sind die am häufigsten überschätzte und am meisten missbrauchte Wortgattung: Sie geben einen Sachverhalt oft doppelt wieder (beispielsweise weißer Schimmel, alter Greis), vertreten schlecht oder falsch ein Substantiv (alpine Flora statt Alpenflora) und lassen sich unglücklicherweise auch noch ins Unermessliche steigern – oft muss das Beschriebene nicht verstärkt und gesteigert werden. Jedes nicht gesagte Adjektiv ist ein Gewinn. Jeder Satz, der mehr als ein Adjektiv hat, sollte einem ein schlechtes Gewissen bescheren.
Ich würde den Abend mit einem klaren „schrecklich-schön“ beschreiben. Da hält sich mein schlechtes Gewissen noch in Grenzen.
Das (20 positive Adjektive, beliebig einsetzbar) Spiel der Deutschen löste eine unheilvolle Mischung aus Euphorie und Pathos aus, die dazu beitrug, dass Olli 1 noch unhöflicher wurde (zu Olli 2: „Ich weiß, du liebst Vereinfachung.“ oder auch „Das Titan-Trikot von 2002, ist das überhaupt gewaschen?“).
Bela Rethys (500 beleidigende Adjektive, beliebig einsetzbar) sprachliche Entgleisungen hier aufzuführen, würde den berühmten Rahmen sprengen – dass er aber auch des Französischen nicht mächtig ist, bewies er mit der Erfindung der Po-Ente. Die richtige Aussprache mag man sich hier anhören:
https://dict.leo.org/frde/#/search=pointe&searchLoc=0&resultOrder=basic&multiwordShowSingle=on
Alle, die eine Auszeit vom zermürbenden Gefasel über das „Wunder von Belo Horizonte“ (BR) brauchen, mögen sich zur Beruhigung ihres Gottesmoduls (s. o.) diesen wunderbaren, kleinen Fußballschatz, den meine Büro-Mitbewohnerin A. ausgegraben hat, zu Gemüte führen: