Dieser Blog schläft seit der WM 2014. Heute wecke ich ihn
wieder, nachdem ich soeben ein Video mit einer Schweizerin gesehen habe, die
sich als vorerkrankte Betroffene an die Öffentlichkeit wandte.
Wenn ich mir die Bilder anschaue, die mein Cousin mir vor 6
Jahren aus Brasilien schickte, schwanke ich zwischen Melancholie (so, als ob es
nie wieder möglich sein wird, unbeschwert zu feiern oder sich über
Fußballmoderatoren lustig zu machen) und kleiner Zuversicht (Humor war schon
immer da, dem kann ein Virus nichts anhaben).
Ich bin vorerkrankt, und ich darf wie die junge Mutter aus
der Schweiz dieses Virus nicht bekommen (ihre Sätze könnten von mir sein) –
mein Mann und vor allem meine 12-jährige Tochter müssen also nicht „nur“ in der
verordneten Isolation leben, sondern auch noch zusätzliche Ängste um mich
bewältigen. Für sie heißt es erst recht, auf Hygiene und Abstand zu Mitmenschen
zu achten, denn wenn sie das Virus haben, werde ich sehr krank werden und
vielleicht sterben. Millionen von Familien auf der ganzen Welt geht es genauso.
Schuldgefühle, weil ich sie besonders einschränke, und
Rechtfertigungsdruck vor der Umwelt begleiten mich. Sie werden nicht
verschwinden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir drei einen Weg finden,
damit umzugehen.
Als uns Anfang Januar die ersten Meldungen aus China
erreichten, war mir das Szenario, in dem wir alle jetzt stecken, sofort vor
Augen. Heimlich bestellte ich 2 Liter Desinfektionsmittel, weil meine Familie
es mit dem Händewaschen nicht genau nimmt, und kaufte bei jedem
Supermarktbesuch immer etwas mehr ein, um einen kleinen Vorrat anzulegen (by
the way: Hier liegt nur 1 Paket Klopapier, daran hatte ich gar nicht gedacht).
Mitte Januar habe ich mir eine Atemmaske mit Filter bestellt und tatsächlich
noch eine bekommen, weil ich mir das Bild vorstellte, unter vielen Infizierten
in einem Wartezimmer beim Arzt zu sitzen. Vorerkrankte müssen ständig zum Arzt.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, ich müsste eigentlich meine Maske und das
Desinfektionsmittel in einem Krankenhaus abgeben oder der Kassiererin bei Edeka
schenken. Ich erzählte einer Freundin davon, und sie lachte mich aus. Völlig
absurd, China ist doch weit weg, du bist mal wieder unnötig panisch, die haben
genug Masken, sagte sie.
Vor ein paar Tagen schrieb sie mir: „Ich nenne dich nur noch
Kassandra.“
Es ist nur zu allzu menschlich, bedrohliche Szenarien zu verdrängen
– würden wir das nicht tun, man könnte das Leben nicht aushalten.
Unterstützung kommt von allen Seiten:
Die Mutter der besten Freundin unserer Tochter nimmt sie zu
kleinen Ausflügen mit, weil ich nicht mehr raus darf.
Eine Freundin packt eine Büchertasche, weil dem Kind der
Lesestoff ausgeht.
Unsere direkte Nachbarin, selbst gestresst mit Homeoffice,
Kleinkind und erkältetem Mann, legt ein Paket Frischkäse und eine Tüte Brötchen
vor die Tür.
Der Chef meines Mannes gestattet ihm für unbestimmte Zeit Homeoffice, damit er sich nicht in der U-Bahn ansteckt.
Meine Schwester schickt uns Brettspiele.
Meine Mutter, selbst krank, verbreitet am Telefon heitere
Gelassenheit. „Geht doch alles noch“, sagt sie.
Ich versuche auf meine Art, etwas zurückzugeben. Liebevolle
Mails schreiben, Buchtipps recherchieren, umsonst Texte lektorieren, einsame
Menschen anrufen, Kuchen für die gestresste Nachbarin backen, Trost- und
Care-Pakete verschicken, so was eben.
Viele Freunde sind weiterhin für die Gesellschaft aktiv, was
mich berührt und aufmuntert, z. B. meine Freundin, die „Frauen gegen die AfD“
gegründet hat. Oder ein befreundetes Paar, das beim NDR rund um die Uhr in den
Nachrichtenredaktionen ackert, damit wir seriöse Fakten bekommen.
Viele Freunde sind existenziell bedroht, was mich
erschüttert. Ich hoffe, die staatlichen Pakete lindern hier etwas.
Mittags habe ich mich allein aus dem Haus getraut, weil es
gerade recht leer war, und bin, in kuriosen Ausweichmanövern um die Passanten,
hastig durchs Viertel gestapft. Ohne Maske, ich traute mich nicht, sie
aufzusetzen. Man muss sich bewegen, man wird sonst irre, dachte ich. Im
Treppenhaus traf ich eine Nachbarin, die ein sehr engagiertes Mitglied bei den
Grünen ist. Sie sprach von der problematischen und drastischen Einschränkungen
der Freiheit und unserer Grundrechte, und ob wir wohl nach Corona je wieder so
freiheitlich leben werden können. Vielleicht bekommen wir sie nie wieder? Noch
so eine Kassandra.
Liest man das aktuelle Interview mit Herrn Drosten, wird einem
das ganze Ausmaß, aber auch die Notwendigkeit, ganze Nationen einzusperren,
noch einmal vor Augen geführt. Demnach werden wir uns noch sehr lange in diesem
Zustand einrichten müssen:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/christian-drosten-coronavirus-pandemie-deutschland-virologe-charite
Dagegen hilft nur, nach der Tagesschau Schmidtflyx vom Schmidt´s Tivoli zu gucken: https://www.tivoli.de/programm-tickets/schmidtflyx-die-streaming-show/
Das ist so blöd, dass es schon wieder gut ist.
Übrigens: Ich mache mich nie wieder über Fußballmoderatoren
lustig. Das erste Fußballspiel nach Corona wird mich glücklich machen, egal,
was für einen Mist die dann reden.
Kassandra